Shelter Ausstellung, Adlerstr. 32, Karlsruhe, Oktober 2023
„Zuflucht“ stellt einen Ort der Rast auf dem Weg fort von einem früheren Zuhause dar, auf der Flucht vor Menschen oder Umständen, die das eigene Leben und die Leben von Freunden und Verwandten bedrohen.
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zusammenfassung
Die massiven Flüchtlingsbewegungen des letzten Jahrzehnts zeugen von einem Grundbedürfnis nach einem sicheren Zuhause. Wir durchleben Zeiten großen kulturellen Wandels, die unsere traditionellen Formen zu leben und zu denken fortwährend in Frage stellen. Klimakrise und weltweite Konflikte haben vielen Menschen die Lebensgrundlage entzogen und Flucht ist in manchen Fällen die einzige Hoffnung und der einzige Weg, den Folgen zu entkommen. Der Pfad zu einem neuen Leben ist oft gefährlich und selbst nachdem sie Schutz in einer neuen Umgebung gefunden haben, fühlen sich viele Flüchtende weiterhin bedroht, entwurzelt und bleiben ihr Leben lang traumatisiert.
Beim Betreten der Installation findet man sich in einem unbekannten Schlupfwinkel in den Wäldern wieder, der rundherum auf Wände und Decke projiziert wird. Im Zentrum des Aufführungsraums steht eine vor Berührungen geschützte Halbspiegelkugel, die das Licht eines Projektors in den gesamten Raum spiegelt. Das reflektierte Licht des sphärischen Spiegels zeichnet sich bewegende Pflanzen eines Dickichts auf Wände und Decke.
Es ist ein sehr vertrautes Bild, das viele aus ihrer Kindheit kennen. Im Grunde ein gutes Versteck, aber potentiell unsicher. Während die Pflanzen Schutz suggerieren, erzählen die umliegenden Klänge eine andere Geschichte. Geräusche der Umgebung, Stimmen und Wind, der durch die Bäume weht, erzeugen eine Situation, die in der Schwebe ist. Die Besucher werfen Schatten und interagieren hierdurch mit den Pflanzen. Je mehr sie sich bewegen, desto lauter und unheimlicher wird die äußere Klanglandschaft.
hintergrund
Die Arbeit versucht, eine Fluchtsituation aus dem Inneren heraus zu beschreiben.
Klangliche Erinnerungsfragmente, Monologe und Dialoge verschiedener Situationen im Wald werden durch Bewegungen des Publikums ausgelöst. Menschen rufen, laufen, ringen, klagen, weinen und flüstern in diesem Wald. Die Klänge basieren im Kern auf autobiografischen Situationen aus meiner Vergangenheit, öffnen sich aber im Bezug auf die aktuelle, globale Fluchtsituation.
Stimmen
Die Arbeit ist vollständig in der internationalen Sprache Englisch gehalten. Innerhalb eines Kreises von zwölf Lautsprechern sollte eine möglichst natürlich klingende Situation im Wald entstehen. Hierzu wurden Fluchtszenen und andere Geräusche zum größten Teil im Tonstudio und in den Wäldern der Umgebung aufgenommen. Aus diesen Geräusch- und Dialogfragmenten habe ich anschließend dreidimensionale Umgebungen konstruiert. Da Flucht uns alle auch in Friedenszeiten betreffen kann, bezieht sich die Arbeit nicht auf einen bestimmten geografischen Wald.
Für den Klang meiner Installationen arbeite ich sehr oft räumlich. Das Publikum mit Klang zu umschließen erlaubt ein besonders tiefes Eintauchen in die Situation. Bei „Zuflucht“ sind besondere Elemente in der Dramaturgie des Klangs dem Thema entsprechend Nähe und Distanz, Enge und Weite. Das Publikum wird oft direkt angesprochen, je nach ausgelöster Klangszene von der gegenüberliegenden Seite des Kreises oder direkt an der Interaktionsposition.
Über menschliche Stimmen hinaus wird auch die Situation im Wald durch Umgebungsgeräusche erzählt: Aufgescheuchte Vögel, Sirenen, Explosionen und andere menschliche und natürliche Klänge sind zu hören. Manche Klänge kippen zwischen einem friedlichen und bedrohlichen Eindruck. Die Intensität der eingespielten Klänge und Stimmen steht dabei mit der Intensität der Bewegungen des Publikums in Beziehung.
Ein Mitreisender ergreift das Wort
Erinnerungen traumatischer Erlebnisse begleiten und verfolgen uns oft ein Leben lang und können sich in Form von Flashbacks an unsere Umgebung heften: Bilder und Klänge solcher Flashbacks verbinden sich dabei mit gewöhnlichen Alltagssituationen. Dementsprechend gibt es im Kunstwerk zum Beispiel ein Feuerwerk, das von Schüssen zunächst kaum zu unterschieden ist und einen Zug, der im Gleichschritt über die Landschaft zu rattern scheint.
Da zu einer Fluchtsituation auch geschärfte oder überschärfte Sinne gehören, ist ein weiteres Element die Verfremdung von Naturgeräuschen. Ähnlich der Andeutung von Gesichtern in den Ästen der Bäume gibt es die Andeutung von Flüstern und Sprache im Wind.
Gesteuertes Pflanzenwachstum (Skizze)
Ein Ziel dieser Arbeit ist also, das Publikum in die Lage zu versetzen, nicht nur über Flucht und Flüchtlinge zu sprechen, sondern sich innerlich in eine flüchtende Person zu versetzen, die Entwurzelung und das Trauma eines verlorenen Heims nachvollziehbar zu machen, gleichzeitig aber auch die Hoffnung und die Zuversicht aufzugreifen, die ein Neuanfang birgt.
Die erste Ausstellung der Arbeit fand in einem denkmalgeschützten Altbau statt, der sich gerade im Umbau befand und daher Gemeinsamkeiten mit einer provisorischen Unterkunft auf einer Wanderung oder Flucht hatte. Ich habe mich bewusst gegen den Aufbau mit Hilfe eines Zeltes oder Ähnlichem als Projektionsfläche entschieden, da innerhalb eines Traumas oft keine Möglichkeit besteht, einen distanzierten Blickwinkel von außen einzunehmen.
Dem Thema Flucht entsprechend kann die Arbeit unter Umständen triggern. Die Konkretheit von „Zuflucht“ lohnt sich aber auch. Eine Fluchtsituation kann jedem begegnen, ob nun als Person, die flüchtet oder als eine Person, die Schutz gewährt. Und sie ist nicht auf Kriegsszenarien limitiert. Ich bin der Überzeugung, das ansatzweise Verständnis für eine solche Ausnahmesituation wird eine grundlegende Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in den nächsten Jahrzehnten bleiben.
technik
Schematische Systemübersicht
Die Installation verwendet nur einen 4k Projektor, einen Spiegel und eine Infrarotkamera, um 360° Interaktion zu erreichen. Kamerabild und Projektion werden entsprechend den geometrischen Eigenschaften aller beteiligten Komponenten räumlich entzerrt.
Test-Mapping mit einem industriellen Spiegel
Sphärisches Spiegelprojektionsmapping hat sich auch durch die Pionierarbeit von Paul Bourke um 2003/2004 etabliert. Ich habe Bourkes Methoden erweitert, mit meinen eigenen Arbeiten kombiniert und weiter entwickelt.
Durch Anwählen mehrerer Punkte im ca. 6x6x4m großen Raum und einem anschließenden maschinellen Lernvorgang wurde der aufwändige Kalibrierungsprozess stark vereinfacht. Realer und virtueller Raum werden in der Folge überlagert und bilden für die Interaktion eine Einheit.
360° Mappingprozedur mit Kalibrierungspunkten
Dies gilt ebenso für den 8- bis 12-Kanal-Raumklang, der simulierten Impulshall verwendet, um den Raum zu öffnen und virtuell zu erweitern. Für einen besseren Tiefeneindruck werden zusätzliche Klangfilter eingesetzt, welche die Wirkung von Atmosphäre und Bäumen nachahmen.
4x4m Testaufbau mit 8 Kanälen Raumklang
Dramaturgisch reagieren unter anderem siebzig bewegliche 3D-Klangfragmente aufeinander. Um einen einheitlicheren Erzählstrang zu erzeugen, werden manche Klänge eher miteinander oder in gemeinsamer Umgebung abgespielt, andere eher nicht. Menschliche Stimmen werden allgemein zu Ende gespielt, bevor ein neues Stimmfragment beginnen kann.
3D-Klangquellenkarte
Die Lautsprecher werden mit einem Messmikrofon eingerichtet, um die klangliche Abhängigkeit vom Raum zu reduzieren. Bei der ersten Ausstellung wurden die Lautsprecher auf dem Boden platziert und um 60° nach oben geneigt. Eine Versenkung der Lautsprecher in aufgebauten Wänden auf Ohrhöhe hinter Stoff ist denkbar, bei Bedarf auch die Ansteuerung eines zusätzlichen Subwoofers.
Klangkalibrierung (eigene Software und Room-Equalization-Wizard)
Die virtuellen Pflanzen wurden vor der Ausstellung durch einen eigenen Teil der Software erzeugt. Neben Wachstumsregeln spielten bei diesem Prozess Gravitation und Lichtverteilung im Raum eine Rolle. Ich habe unter anderem Bilder von Gesichtern durch ein gesteuertes Wachstum der Zweige angedeutet.
Die Interaktion findet schließlich über eine physikalische Simulation statt, die Kräftewirkungen entlang der Äste modelliert. Hierzu mussten Bewegungen im zweidimensionalen Infrarotbild auf eine virtuelle Kugel projiziert und so mit den physikalischen Raumachsen in Einklang gebracht werden. Eine Windsimulation und Gravitation sorgen schließlich dafür, dass die Bewegung der Bäume natürlich wirkt.
Die Spiegelhalbkugel selbst ist eine Maßanfertigung aus Neuseeland, bei der sich die sensible Spiegeloberfläche nicht hinter Glas sondern notwendigerweise auf der Außenseite befindet. Herstellungsbedingt handelt es sich eher um einen Halb-Ellipsoiden. Sie ist durch eine Barriere geschützt und wird täglich durch ein Kaltluftgebläse von Staub gereinigt.
Ein Blick durch die Infrarotkamera
Der sphärische Spiegel dient als optischer und analoger „Verstärker“ der anamorphotisch projizierten Bilder. In der Renaissance wurde diese Technik oft angewendet, um Malereien auf Kathedralen- und Kirchendecken zu entzerren. Die Anamorphose wurde aber auch verwendet, um Bilder zur privaten oder persönlichen Sicherheit zu verbergen. Die Verborgenheit wird hier umgekehrt: Auf den Wänden rund um den Spiegel entfalten sich die Bilder von dichten Büschen und Bäumen der Projektion.
beteiligte
Vielen Dank an alle, die zu diesem Mammutprojekt beigetragen haben. „Zuflucht“ wäre ohne die Arbeit dieser helfenden Hände undenkbar gewesen.
Idee und Realisierung | Holger Förterer |
Klangerkundung, Klangberatung und Aufnahme | Lorenz Schwarz |
Stimmen | Eva Judkins Rouven Israel Holger Förterer Ida Nordpol |
Brechend laute Schlagermusik | Frank Gärtner Susanne Ratzer |
Ausstellungsraum | Robert Fülle Huisi He |
Audiogeräte | Paul Modler MK Sound (HfG) |
Konstruktion | Jan Hollander Kai and Andreas Barbey, Schreinerei Kuppinger |
Unerschütterliche Unterstützung | Kwang Pansawas Niko Kinsch |
Beratung / Printmedien | Katja Löffel Robert Fülle Daniela Burkhardt Rathausdruckerei Karlsruhe |
Kameraoptik | Jörg Himpel, Lensation GmbH |
Ursprünglicher Kamerakäfig | Christian Wening Marc Teuscher |
Videodokumentation | Marc Teuscher David Loscher |
Spiegelhalbkugel | Bennett Mirror Technologies |
Spiegelmaske | Nils Roßmann, Fablab Karlsruhe |
Zusätzliche Klänge von | pond5 |
Spezieller Dank an | Ida Nordpol Solveig Wening Rainer Kuhn Christian Wening Nelly Dalakovi Judith Rastätter Michael Saup Jan Gerigk Sandra Beuck |
Unterstützt im Rahmen der UNESCO City of Media Arts Karlsruhe |
Daniela Burkhardt Dirk Goldhorn Blanca Gimenez |
mehr videos und bilder
Interaktionsskizze, März 2023
Simulation der Installation April 2022
Bildkalibrierung der ersten Ausstellung
Vorderseite eines Flyers
Plakat der ersten Ausstellung
Reflektionssimulation (Skizze)
zusätzliche links
Blog während der Entwicklung (englisch)
Zuflucht bei Karlsruhe City of Media Arts
Paul Bourke's Seiten